Von Geschichten über Krieg

21.06.2022

Weil es immer angebracht ist, vor dieser Schrecklichkeit zu warnen − in den momentanen Zeiten aber ganz besonders , stelle ich euch heute zwei Bücher über den Krieg vor.

(Inhaltswarnung: Kriegserfahrungen)


Der Krieg hat kein weibliches Gesicht von Swetlana Alexijewitsch

(Die folgenden Zitate stammen aus: Alexijewitsch, Swetlana: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. 2. Auflage. Berlin: Suhrkamp Taschenbuch, 2015.)

"Es gab schon Tausende Kriege − kleine und große, bekannte und unbekannte. Und Bücher darüber gibt es noch mehr ... Aber ... Das haben Männer über Männer geschrieben. Alles, was wir über den Krieg wissen, wissen wir von 'Männerstimmen'. Wir sind Gefangene der 'männlichen' Vorstellungen und der 'männlichen' Empfindungen. 'Männlicher' Worte. Die Frauen aber schweigen. [...] Und wenn sie einmal darüber reden, dann erzählen sie nicht ihren 'weiblichen' Krieg, sondern den 'männlichen'. Passen sich einer fremden Sprache an − dem festgeschriebenen männlichen Kanon. Nur zu Hause oder im Kreis ihrer Frontfreundinnen weinen sie und reden über den Krieg, der mir unbekannt ist. Nicht nur mir, sondern uns allen. Bei meinen Reisen als Journalistin war ich oft Ohrenzeugin, einzige Zuhörerin vollkommen neuer Texte. Ich erlebte eine Erschütterung wie in meiner Kindheit. In diesen Geschichten fletschte etwas Geheimnisvolles schaurig die Zähne ..." (S. 13f.)

Wie die russischen Frauen vom Krieg erzählen, liest man in Alexijewitschs Buch. Die Autorin hat viele, viele Wehrfrauen der russischen Armee des Zweiten Weltkriegs besucht und sie nach ihrer Version der Kriegerlebnisse gefragt. Dabei beschreibt sie, wie sie nicht einfach eine vorstrukturierte Befragung durchführt, sondern wie sie eine Verbindung zu den Frauen aufbaut, bis diese sich ihr schließlich öffnen. Manche erzählen mehr, als sie beabsichtigt haben − und manche wollen nicht darüber reden, wollen die Wunden nicht wieder öffnen. Denn dass Krieg unheilbare Wunden hinterlässt, wird an genügend Stellen im Buch deutlich. Der Krieg ist eine eigene Welt, und innerhalb dieser existiert die weibliche Kriegswelt, über die so lange geschwiegen wurde und die noch immer verschwiegen wird.

"Ich dringe immer tiefer ein in die endlose Welt des Krieges, alles andere verblasst dagegen, wird alltäglicher. Es ist eine mächtige, eindrucksvolle Welt. Nun verstehe ich die Einsamkeit von Menschen, die von dort zurückgekehrt sind. Wie von einem anderen Stern oder aus dem Jenseits. Sie haben ein Wissen, das andere nicht haben und das man nur dort erlangen kann, in der Nähe des Todes. Wenn solche Menschen versuchen, etwas mit Worten wiederzugeben, haben sie das Gefühl einer Katastrophe. Sie werden stumm. Sie wollen erzählen, und die anderen möchten gerne verstehen, aber alle sind machtlos. Davor habe ich Angst." (S. 19)

Das ist ein wichtiger Aspekt dieses Buches: Die Sprache über den Krieg.
Viele Erzählungen der ehemaligen Soldatinnen (in allen Dienstgraden, die es in der russischen Armee gab) beginnen mit dem Herunterspielen der eigenen Ausdrucksweise über das Erlebte. Mit der Erleichterung, endlich eine Zuhörerin gefunden zu haben, der sie in ungeschönten, unmittelbaren Worten erzählen können, welches Leid Krieg verursacht. Beginnen mit der Angst vor den Worten, die das Grauen zurückholen.
Und dann entpuppt sich das weibliche Erzählen über den Krieg als eines, das seine Auswirkungen in alle Bereiche des Lebens schildert: Wie der Krieg ganze Landschaftsstriche ausradiert, Tierarten aussterben lässt, wie er Körper frühzeitig altern lässt und für ein ganzes Leben zerstört. Wie der Krieg die Menschen verformt und sie sich auch nach seinem Ende an die unmenschlichen Kriegsgesetze halten. Wie Frauen im Krieg von Soldaten als ihre Kameraden angesehen werden, nach dem Krieg jedoch abschätzige Behandlung erfahren: Sie seien ja keine richtigen Frauen. Wie so viele von ihnen nach dem Krieg in Armut leben müssen und bis an ihr Lebensende in ärmlichen Verhältnissen verbleiben.


Für wohl die wenigsten von uns heutzutage nachvollziehbar, dennoch so wichtig, um die Geschichte der russischen Frauen zu verstehen, sind die Berichte über die anfängliche Kriegseuphorie, von der schon junge Mädchen gepackt wurden, sodass einige alles dafür taten, um bspw. schon als Dreizehnjährige eingezogen zu werden. Sie wollen für ihr Land kämpfen, ihre Heimat verteidigen und machen zwischen Jungen und Mädchen keinen Unterschied. In der Armee üben sie alle Aufgaben aus, die anfallen, von Wäscherin über Lazarett-Ärztin, Frontsoldatin, Kampfpilotin bis zu leitenden Posten wie Hauptfeldwebel und Geschützführerin.

All das hat die Autorin aufgeschrieben und in Kapiteln zusammengestellt, wobei sie nicht nur von den erzählten Worten berichtet, sondern auch von dem Schweigen, das wiederum so viel auszusagen hat. Sie lässt uns nicht nur in lange Erzählungen blicken, sondern auch in kurze − abgebrochene Absätze, einzelne unvergessliche weil erschütternde Eindrücke reihen sich aneinander. Und dazwischen nimmt die Autorin uns mit in den Entstehungsprozess des Buches, zu den unzähligen aufgenommen Kassetten, handschriftlichen Notizen über Gespräche, über ihre Interpretation der Erzählweisen. Sie verleiht den Frauen eine Stimme, damit die Wahrheit der Töchter, Schwestern und Mütter nie wieder verloren geht.

Die weibliche Darstellung des Krieges verschont uns nicht. Sie zeigt uns die brutale Wahrheit von schwarzen Sümpfen voller Sterbender, von Gnadenlosigkeit gegenüber feindlichen Soldaten, von der Gewissheit, dass das eigene Leben jeden Augenblick in einer Explosion oder mit einer Schusswunde enden kann. Von Hunger und Angst als ständigen Begleitern. Die weibliche Erzählung des Krieges zeigt uns außerdem die auch während eines solchen Ausnahmezustands anhaltende Misogynie. Sie betont zwar immer wieder das menschliche Leid, das nicht von Geschlechtern abhängig ist − dennoch macht Der Krieg hat kein weibliches Gesicht deutlich, dass für das Verständnis dieses Grauens nicht nur männliche Erzählungen ausreichen.

Zum Abschluss noch ein Zitat, welches einen Teil der grauenvollen Auswirkungen des Krieges beschreibt:

"Als der Krieg aus war, entminten wir noch ein ganzes Jahr lang Felder, Seen und Flüsse. [...] Für die Pioniere endete der Krieg erst einige Jahre nach dem Krieg, sie haben am längsten gekämpft. Und was das bedeutet, noch nach dem Sieg täglich auf Detonationen gefasst zu sein! Das kann ich gar nicht erzählen ... Nicht in Worte fassen ... Nein, nein! Der Tod nach dem Sieg war der schlimmste Tod. Der sinnloseste ... Unerträglich ..." (S. 254)


Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque

(Die folgenden Zitate stammen aus: Remarque, Erich Maria: Im Westen nichts Neues. 22. Auflage. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2004.)

"Er sieht schrecklich aus, gelb und fahl, im Gesicht sind schon die fremden Linien, die wir so genau kennen, weil wir sie schon hundertmal gesehen haben. Es sind eigentlich keine Linien, es sind mehr Zeichen. Unter der Haut pulsiert kein Leben mehr; es ist bereits herausgedrängt bis an den Rand des Körpers, von innen arbeitet sich der Tod durch, die Augen beherrscht er schon. Dort liegt unser Kamerad Kemmerich, der mit uns vor kurzem noch Pferdefleisch gebraten und im Trichter gehockt hat; − er ist es noch, und er ist es doch nicht mehr, verwaschen, unbestimmt ist sein Bild geworden, wie eine fotografische Platte, auf der zwei Aufnahmen gemacht worden sind. Selbst seine Stimme klingt wie Asche." (S. 19f.)

Zu Beginn von Remarques Roman muss der Protagonist Paul mitansehen, wie einer seiner Kameraden an einer Verletzung stirbt. Wir sind mitten im Ersten Weltkrieg und erleben mit dem Protagonisten und seinen Freunden in der Armee einige seiner Erlebnisse aus dem Krieg mit. Der Roman spart nichts aus: Uns wird gezeigt, wie die Vorräte der Deutschen knapp werden, was sich natürlich auch auf die Truppen auswirkt, die kaum genug zu essen bekommen. Die Kommandeure missbrauchen ihre Macht über die Soldaten. Die Läuse sind nicht aus Haaren und Kleidung herauszubekommen. An der Front müssen sich die Hauptfigur und ihre Freunde auf einem Friedhof vor den Granaten und Gasattacken schützen − ein Sarg wird Paul zum Lebensretter. Der Krieg wird ungeschönt beschrieben, was ein Mittel des Romans ist, um den Lesenden vor Augen zu führen, dass Kriege niemals eine Lösung sein können − und dabei wird an Grausamkeiten und bitterer Ironie nicht gespart:

"Dieser Zufall ist es, der uns gleichgültig macht. Ich saß vor einigen Monaten in einem Unterstand und spielte Skat; nach einer Weile stand ich auf und ging, Bekannte in einem andern Unterstand zu besuchen. Als ich zurückkam, war von dem ersten nichts mehr zu sehen, er war von einem schweren Treffer zerstampft. Ich ging zum zweiten zurück und kam gerade rechtzeitig, um zu helfen, ihn aufzugraben. Er war inzwischen verschüttet worden. Ebenso zufällig, wie ich getroffen werde, bleibe ich am Leben." (S. 75)

Der Roman positioniert sich eindeutig gegen den Krieg − der patriotische Wille, für das eigene Land zu kämpfen, verschwindet schnell im Angesicht der Kriegskämpfe, und die Figuren sind sich dessen sehr wohl bewusst:

"Albert spricht es aus. 'Der Krieg hat uns für alles verdorben.' Er hat recht. Wir sind keine Jugend mehr. Wir wollen die Welt nicht mehr stürmen. Wir sind Flüchtende. Wir flüchten vor uns. Vor unserem Leben. Wir waren achtzehn Jahre und begannen die Welt und das Dasein zu lieben; wir mußten darauf schießen." (S. 67)

Zwischen all dem Grauen schimmern immer wieder Erinnerungen an ein besseres Leben hindurch; verscheuchen Soldatenwitze die ständige Angst für einen Augenblick; ist der Zusammenhalt der Kameraden ein Anker, der den Kriegsalltag leichter macht. Doch die erschütternde Darstellung überwiegt und will gesehen werden, das Unaussprechliche will nicht vergessen werden.

"Unser Essen ist so schlecht und mit so vielen Ersatzmitteln gestreckt, daß wir krank davon werden. Die Fabrikbesitzer in Deutschland sind reiche Leute geworden − uns zerschrinnt die Ruhr die Därme. Die Latrinenstangen sind stets dicht gehockt voll; − man sollte den Leuten zu Hause diese grauen, gelben, elenden, ergebenen Gesichter hier zeigen, diese verkrümmten Gestalten, denen die Kolik das Blut aus dem Leib quetscht und die höchstens mit verzerrten, noch schmerzbebenden Lippen sich angrinsen: 'Es hat gar keinen Zweck, die Hose wieder hochzuziehen −' " (S. 188)

Wie auch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht ist Remarques Roman episodisch erzählt und wirkt mit seiner schnörkellosen Sprache ebenso unmittelbar erschütternd.
Und vielleicht kann man vom Krieg nicht anders erzählen, weil die einzelnen Grausamkeiten so bleibende Eindrücke bilden, dass keine zusammenhängende Geschichte möglich ist. Und dennoch sind es insbesondere die einzelnen geschilderten Eindrücke, die uns ein Bild des Krieges vermitteln und hoffentlich genug Mitgefühl und Abschreckungspotential entfalten, damit niemand euphorisch in einen Krieg stürmt.



Welche Bücher über Kriege hast du gelesen? Was hat diese Leseerfahrung mit dir gemacht?
Ich persönlich lese gerne, um meinen Horizont zu erweitern, doch mit dem Thema Krieg, das mit so vielen leidvollen Themen verknüpft ist, kann ich mich meiner mentalen Gesundheit wegen nicht so oft beschäftigen. Doch vom Grauen zu lesen, schafft auch Verständnis sowie Dankbarkeit dafür, ein friedliches Leben führen zu können. Und vielleicht stärkt es auch unsere Bereitschaft, lauter für Frieden einzutreten.

Herzlich,
eure Melina

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