Schreiben durch Emotionen
Ein etwas anderer Beitrag zum emotionalen Schreiben. Es werden psychische Erkrankungen erwähnt.
Emotionen
als Katalysator für Texte nutzen −
dass das überhaupt möglich ist, habe ich
erst vor zwei Jahren begriffen. Mit der inneren Aufarbeitung meiner
Vergangenheit machten sich Gefühle bemerkbar, die mich überforderten. Ein
freier Therapieplatz war nicht in Sicht. Wo sollte ich hin mit all der Wut, dem
Schmerz, der Trauer und mit der überhandnehmenden Depression? Wie sollte ich
mit den lange gespeicherten Gefühlen, die nach zwei Jahrzehnten an die
Oberfläche brodelten, umgehen − ohne professionelle Unterstützung? Hatte ich es
doch nie gelernt, warum Gefühle überhaupt aufkommen, geschweige denn, was man
dann mit ihnen macht, ohne andere und sich selbst zu verletzen, und wie man so
laute Gefühle wie den Zorn aus der Kindheit wieder entlassen kann.
Was
mich rettete, war das Schreiben. Es ist kein Ersatz für Therapie, kein
Allheilmittel −
das schicke ich gleich vorweg.
Doch in meiner Situation vor zwei Jahren war das kreative Schreiben die einzige
helfende Hand, die meine suchende ergriff. Mit einem Mal verstand ich, was
kreatives Schaffen leisten kann. Ob es das Malen ist, das Schreiben, das
Komponieren oder welche künstlerische Ausdrucksart auch immer, ob zu
Veröffentlichungszwecken oder nicht: wenn die innere Welt sich auf einmal einen
Ausdruck verschafft, der einen selbst überrascht, wenn Gefühle sich in Worte
verwandeln, Zeilen, Strophen, Gedichte (wie es in meinem Fall war), wenn ein
Aufseufzen durch den Körper geht, weil da endlich, endlich etwas wahrgenommen
und gesagt wird, wenn die Handbewegung beim Schreiben Sprachrohr für das
Innerste ist und schonungslos ehrlich offenbart, wie viele Wunden wir in uns
tragen, wie viele davon seit Jahren unverheilt sind, immer wieder bluten, nie
verheilen können. Sich durch die überfordernden Gefühle hindurch schreiben: dieses Schreiben kann die Wunden nicht heilen, aber es kann
den Sturm in uns zähmen, indem es ihn wahrnimmt und ihm eine Stimme verleiht.
Für den Prozess meines Gesundwerdens (in dem ich mich immer noch befinde) war
das der erste Schritt: wahrgenommen werden, sich selbst wahrnehmen, Emotionen
und Gefühle wahrnehmen, alte und neue Verletzungen, Heruntergeschlucktes, nie
Ausgesprochenes; wahrnehmen, wofür ich mich schäme, was ich nicht besser wusste.
Wahrnehmen, wo sich all das festgesetzt hat, und es durch meine Schreibhand
kommunizieren lassen, ihm Berechtigung zusprechen.
Ein solches emotionales Schreiben ist roh, ehrlich, ungeschönt. Es ist oftmals
nicht dazu da, sofort in die Welt entlassen zu werden. Es dient zuallererst unserer
eigenen Verarbeitung. Haben wir es aufgeschrieben, was aus dem Inneren nach
draußen drängte, können wir die mit unseren Verletzungen gefüllten Seiten sorgfältig
wegschließen und mit Therapeut*innen die Themen angehen, die sich beim
Schreiben gezeigt haben.
Emotionales Schreiben oder Schreiben durch und mit den eigenen Emotionen ist
ein erster Schritt zur Verarbeitung, es kann eine therapeutische Wirkung haben
und es kann uns auf den Weg bringen, der uns ganz werden lässt.
Bei mir verknüpfen sich Gefühle, die schreibend verarbeitet werden wollen,
meistens mit dem ersten Satz, der mir so lange im Kopf herumgeistert, bis ich nach
Zettel und Stift greife. In der Überarbeitung kann es gut sein, dass ich diesen
ersten Satz abändere, in der Rohfassung jedoch, wenn ich ganz in diesem Gefühl
feststecke, ist es der wichtigste Satz, der den Text ins Fließen bringt. Dann
denke ich nicht über Rhythmus, Wortwiederholungen, Zeilenlängen und Sonstiges
nach, sondern lasse das Gefühl die Worte formen, die es braucht, um sich
auszudrücken. Durch das Schreiben ebbt der Sturm der Emotion meistens schon ein
wenig ab, und ich kann den Text zur Seite legen und mein inneres Kind trösten,
meditieren, durch den Schmerz atmen, ins Therapiegespräch damit gehen ...
In der Überarbeitung schaue ich darauf, welcher Teil von mir in dem Text zum
Vorschein kommt: ist es der selbstmitleidige, der anklagende, der ohne
Selbstreflexion alles herausschreit? Zum Zeitpunkt des Aufschreibens musste
sich dieser Anteil Gehör verschaffen. Will ich den Text jedoch veröffentlichen,
gehe ich während der Überarbeitung in mich und stelle mir die Frage, ob ich
schon Frieden geschlossen habe mit mir selbst, mit dem Erlebten, mit den
Beteiligten. Habe ich das nicht, rutsche ich noch zu sehr in dieses Gefühl von
Wut, von Verletzenwollen, von Rache hinein, ist der Text noch nicht reif −
bin
vielmehr ich noch nicht bereit, diese Verletzung lesbar zu machen. Denn es
gehört zwar zum Prozess des Durchfühlens von inneren Wunden dazu, aber ich
persönlich würde keinen Text lesen wollen, der voll Anklage und Selbstmitleid des
erwachsenen Ichs strotzt und in dem keinerlei Reflexion zu einer (inneren)
Entwicklung führt.
Es gibt aber auch die Art von kreativen Impulsen, durch die ich während des Aufschreibens verarbeiten und loslassen kann. Meiner Meinung nach merkt man das einem Text beim Lesen auch an.
Mit
Emotionen schreiben ist nicht nur ein Mittel des Tagebuchschreibens oder der
Autobiografie −
auch die Fiktion profitiert von Gefühlen. Dabei benötigen wir
Autor*innen die Bereitschaft, mit den Figuren durch schwierige innere Prozesse
zu gehen, sowie das Durchhaltevermögen, beim Getriggertwerden durch die
Geschichte mit den aufkommenden eigenen Gefühlen ebenso zurechtzukommen wie mit
denen der Charaktere.
Durch
Gefühle können wir in Verbindung treten zu den Figuren, auch zu den unliebsamen,
auch zu kleinen Nebenfiguren. Das Selbstfühlen und das (manchmal erst daraus
entstehende) Mitfühlen erweckt in uns die Fähigkeit, fiktionale Charaktere
authentisch darzustellen.
Es wurde schon von einigen Schriftsteller*innen gesagt, Schmerz sei vortrefflich,
um kreative Texte entstehen zu lassen. Nun, auf gewisse Weise stimme ich dem
zu. Doch muss Schmerz bei Weitem nicht der einzige Auslöser für das Schreiben
sein (zudem halte ich nichts von einer Romantisierung von psychischen
Erkrankungen bei Künstler*innen), auch alle anderen Gefühle können Texte mit
Sogwirkung entstehen lassen und die Lesenden das fühlen lassen, was wir beim
Schreiben und Verarbeiten empfunden haben.